Myriocapa stipitata (Gestiefelte Tausendfrucht)

Zur Aktualität von Goethes Naturforschung

Vortrag zur Langen Nacht der Wissenschaften 2024
Myriocapa stipitata (Gestiefelte Tausendfrucht)
Foto: Iris Meinel

 

Von Goethes Naturforschung trennen uns über 200 Jahre. Welche Bedeutung kann sie heute für unsere eigene Gegenwart gewinnen? Um auf diese Frage zu antworten, müssen wir Goethes Naturforschung zunächst historisieren, d.h. in den wissenschaftlichen, geschichtlichen wie kulturellen Zusammenhängen verorten, die sie haben entstehen lassen. Aber noch eine zweite Schwierigkeit stellt sich: Wenn wir einer Sache Aktualität im Blick auf unsere eigene Zeit zuschreiben, dann setzt dies immer auch eine Deutung dieser Gegenwart voraus. Wer soll ‒ inmitten sich verschiebender Gegenwartshorizonte ‒ eine solche Deutung leisten können und mithilfe welcher Erkenntnismittel? Aktualität ist ein höchst komplexes und voraussetzungsreiches geschichtliches Phänomen.

1. Beginnen wir mit einem flüchtigen Blick auf unsere eigene Gegenwart und die in ihr verschränkten Krisen. Es ist offensichtlich, dass wir schon lange dabei sind, Natur zu zerstören. Pflanzen, Tiere und Ökosysteme sind weltweit so gefährdet wie nie. Bedroht ist aber in Zeiten von Klimawandel und Artensterben nicht nur die Umwelt, die uns leben lässt, bedroht erscheint auch die Natur in uns selbst: die Vermögen der Wahrnehmung und der Erfahrung.1 Wir wissen eigentlich, dass wir so, wie wir derzeit leben, nicht werden weiterleben können. Vor diesem Problemhintergrund soll mit wenigen Strichen eine Form der Aktualität grob umrissen werden, die in der Erkenntnishaltung von Goethes Morphologie liegt. Diese epistemische Haltung ist schon bei Goethe der Versuch einer Rückgewinnung eines lebendigen Verhältnisses zur Natur. Dier Gang der Überlegung wird von der Historisierung zur Aktualisierung fortschreiten und dabei immer wieder Goethe mit seinen eigenen Worten sprechen lassen.

 

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Foto: Iris Meinel

 

2. Im Zentrum von Goethes Naturforschung steht das Lebendige, stehen die »lebendigen Bildungen« einer dynamischen und beweglichen Natur. In der Konsequenz heißt dies für die Naturforscher, die die Prozesse der Formbildung und Formtransformation untersuchen, sich selbst »beweglich und bildsam« zu erhalten:

Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht.

 

Das »lebendige Anschaun der Natur« steht im Zentrum der morphologischen Praxis. Die morphologische Methode, die Goethe auf dem Feld der Naturforschung entwickelt und einübt, bezeichnet einerseits Verfahren des vergleichenden Sehens sich wandelnder Organismen, andererseits die geistige Zusammenschau der sukzessiv sich manifestierenden Erscheinungen (wie bei der serialen Metamorphose der Pflanzen).

 

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Foto: Iris Meinel

 

3. Goethe schreibt die Praxen der Morphologie in geschichtlicher Perspektive einem »Trieb« zu, der Außen und Innen miteinander vermittelt, die äußere Erscheinung der Gestalten mit der formenden Kraft im Inneren abgleicht:

Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äussern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermassen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden. Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche, eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten.

 

Zu einer Wissenschaft gehört für Goethe – nicht nur nebenbei – die Erfassung ihrer Geschichte. Sein Blick auf die Geschichte der Morphologie markiert deutlich die Verbindungen zu den Künsten und ihrer Theorie. Aisthetik, künstlerische Darstellung und Naturwissenschaft werden miteinander verbunden.

 

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Foto: Iris Meinel

 

4. Goethe begreift den Menschen als einen Teil der lebendigen Natur. Zum Menschsein gehört es, Natur zu erfahren und sich selbst in dieser Bezogenheit als einen Teil dieser Natur zu erfassen. Wir beobachten Natur nicht nur, wir nehmen an ihr teil. Dergestalt lesen wir im ‚Buch‘ der Natur, dergestalt kann die Natur zu uns sprechen, wenn wir uns in ihre Bildungsgesetze vertieft haben:

Jede Pflanze verkündet dir nun die ewgen Gesetze,
    Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.

 

So heißt es in der Elegie Die Metamorphose der Pflanzen. Die Verse machen deutlich, dass sich der »Diskurs über die Natur« bei Goethe in einen »Dialog mit der Natur« verwandelt.2

 

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Foto: Iris Meinel

 

5. Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis des Menschen sind in Goethes Konzeption von Naturwissenschaft untrennbar miteinander verknüpft:

Es ist ein angenehmes Geschäft die Natur zugleich und sich selbst erforschen weder ihr noch seinem Geiste Gewalt anzuthun sondern beyde durch gelinden Wechseleinfluß mit einander ins Gleichgewicht zu setzen.

 

Dieser Satz, der das Selbstverständnis des Naturforschers Goethe zum Ausdruck bringt, durchkreuzt die Herrschafts- und Gewaltgeschichte menschlicher Ausbeutung von Natur.

 

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Foto: Iris Meinel

 

6. Die Relationierung von Natur und Mensch bei Goethe verdankt sich einer »Gegenbewegung« gegen Grundlagen neuzeitlicher Naturwissenschaft.3 Der Mensch, der die Natur kennt, versteht sich seit Descartes als einen Beobachter, dem die Objektsphäre Natur gegenübersteht. Wenn Descartes das ego cogito der res extensa entgegengesetzt hat, entsteht zwischen Natur und menschlichem Bewusstsein ein Bruch. Der Mensch, der die Natur erkennt, wird aus der Natur herausgebrochen. Dem Dualismus der Zwei-Substanzenlehre, der neuzeitliche Naturwissenschaft fundiert, tritt Goethes Naturforschung entgegen. Goethe rekurriert vor diesem Hintergrund in intensiver Weise auf Spinoza, weil dieser die Aussicht eröffnet, Geist und Materie wieder als Einheit zu denken und Leben als Identität von Geist und Materie zu verstehen.4 Geist und Materie können mit Spinoza als zusammengehörige Erscheinungsweisen des einen göttlichen Wesens (»deus sive natura«) erscheinen.

Man kann in diesem Kontext an die Studierzimmerszene in Goethes Faust erinnern. Hier ist es Mephisto, der die ‚entgeistenden‘ Verfahrensweisen der Wissenschaften spöttisch vor Augen rückt:

Wer will was lebendig’s erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt leider! nur das geistige Band.

 

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Foto: Iris Meinel

 

7. Goethes Morphologie entfaltet sich, historisch betrachtet, vor der Aufspaltung von Natur- und Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert. Sie bezieht sich von Anfang an sowohl auf Phänomene der Natur wie auf solche der Kultur. Die Signatur von Goethes Naturforschung ist, methodologisch betrachtet, durch und durch ‚geisteswissenschaftlich‘: »In den Geisteswissenschaften ist die Erkenntnis des Objekts eben nicht bloße Objekterkenntnis, sondern immer zugleich Selbsterkenntnis des erkennenden Subjekts.«5 Das Subjekt ist in diesem Erkenntnisrahmen stets auf den Gegenstand und auf sich bezogen. Goethe stellt heraus, dass wir 

durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig werden.« (Hervorhebung H.H.)

 

Morphologische Naturforschung ist geistige Partizipation an den Bildungsprozessen der Natur, die auf den Erkennenden zurückwirkt und ihn zum kreativen Hervorbringen anregt.

Können wir heute, wo sich die Frage der ökologischen Konvivenz des Menschen mit der Natur in neuer Radikalität stellt, von Goethe lernen?

 

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Foto: Iris Meinel

1 Vgl. Georg Picht: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Mit einer Einführung von Carl Friedrich von Weizsäcker. Stuttgart 1989, 37-45, hier 38.

2 Margrit Wyder: Einleitung. Die Konfessionen eines Naturforschers. In: Bis an die Sterne weit? Goethe und die Naturwissenschaften. Ausgewählt von Margrit Wyder. Mit einem Essay von Adolf Muschg. Frankfurt am Main 1999, 11-20, hier: 17.

3 Georg Picht, a.O. [1], 37.

4 Vgl. ebda., 147 ff. In dem Brief von Goethe an den Kanzler von Müller vom 24. Mai 1828 heißt es: »Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich’s der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen«.

5 Walter Jaeschke: Der Geist und seine Wissenschaften. In: Hegels Philosophie. Hamburg 2020, 153-170, hier 169 f.